Levine
Sie kamen über die Lichtung gelaufen, riefen: »Dr. Levine! Dr. Levine! Sie sind in Sicherheit! Sie sind in Sicherheit!« und umarmten Levine, der gegen seinen Willen lächeln mußte. Dann wandte Levine sich an Thorne.
»Doc«, sagte er. »Das war sehr unvernünftig.«
»Warum sagen Sie das nicht ihnen?« erwiderte Thorne. »Es sind doch Ihre Schüler.«
Kelly sagte: »Nicht böse sein, Dr. Levine.«
»Es war unsere Entscheidung«, erklärte Arby. »Wir sind auf eigene Verantwortung mitgekommen.«
»Auf eigene Verantwortung?«
»Wir haben gedacht, Sie brauchen Hilfe«, sagte Arby. »Und das haben Sie ja auch.« Er sah Thorne an.
Thorne nickte. »Ja. Sie haben uns geholfen.«
»Und wir werden nicht im Weg sein, das versprechen wir«, sagte Kelly. »Sie tun einfach, was Sie tun müssen, und wir werden –«
»Die Kinder haben sich Sorgen um dich gemacht«, sagte Malcolm, der nun auf Levine zukam. »Sie dachten nämlich, du bist in Schwierigkeiten.«
»Übrigens, was sollte denn diese Eile?« fragte Eddie. »Ich meine, Sie lassen uns die ganzen Fahrzeuge bauen, und dann verschwinden Sie, ohne sie –«
»Ich hatte keine andere Wahl«, sagte Levine. »Die Regierung hier hat mit dem Ausbruch einer neuen Art von Gehirnhautentzündung zu kämpfen. Ihrer Ansicht nach hat die mit den Dinosaurierkadavern zu tun, die gelegentlich an der Küste angespült werden. Das ist natürlich Blödsinn, aber es hält sie nicht davon ab, jedes Tier zu vernichten, sobald sie von einem Fund erfahren. Ich mußte als erster hiersein. Die Zeit ist knapp.«
»Und deshalb wolltest du allein hierher.«
»Unsinn, Ian. Hör auf zu schmollen. Ich hatte vor, dich anzurufen, sobald ich sicher sein konnte, daß ich die richtige Insel gefunden hatte. Und ich war nicht allein. Ich hatte einen Führer namens Diego, einen Einheimischen, der mir geschworen hatte, daß er vor Jahren, als Junge, schon einmal auf der Insel gewesen war. Er schien sich auch wirklich gut auszukennen. Und er brachte mich problemlos die Klippen hoch. Alles lief wunderbar, bis wir am Bach angegriffen wurden und Diego –«
»Angegriffen?« fragte Malcolm. »Von was?«
»Ich konnte nicht genau sehen, was es war«, sagte Levine. »Es ging alles sehr schnell. Das Tier hat mich zu Boden geworfen und den Rucksack zerfetzt, und was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich hat die Form meines Rucksacks es durcheinandergebracht, weil ich nämlich wieder aufgestanden und davongelaufen bin, und es hat mich nicht verfolgt.«
Malcolm starrte ihn an. »Da hattest du aber ein verdammtes Glück, Richard.«
»Na ja, ich bin ziemlich lange gelaufen. Als ich mich dann umdrehte, war ich allein im Dschungel. Und hatte völlig die Orientierung verloren. Weil ich nicht wußte, was ich tun sollte, bin ich auf einen Baum geklettert. Das schien mir eine gute Idee zu sein – aber bei Anbruch der Nacht sind dann die Velociraptoren gekommen.«
»Velociraptoren?« fragte Arby.
»Kleine Fleischfresser«, sagte Levine. »Typische Körperform der Raubdinosaurier, lange Schnauze, binokulares Sehen. Ungefähr zwei Meter groß, um die 90 Kilo schwer. Sehr schnelle, intelligente, gemeine kleine Dinosaurier, und sie agieren in Rudeln. Gestern abend waren es acht, die um meinen Baum herumgesprungen sind und versucht haben, mich runterzuholen. Springen und Fauchen, die ganze Nacht, Springen und Fauchen … Ich habe kein Auge zugemacht.«
»Ah, was für eine Schande«, sagte Eddie.
»Hören Sie«, erwiderte Levine verstimmt. »Ich kann nichts dafür, wenn Sie –«
»Sie haben die ganze Nacht im Baum verbracht?« fragte Thorne.
»Ja, und am Morgen waren die Raptoren verschwunden. Also bin ich heruntergeklettert und habe mich umgesehen. Ich habe das Labor entdeckt, oder was das auch ist. Offensichtlich haben die von InGen es überstürzt geschlossen und ein paar Tiere zurückgelassen. Ich habe das ganze Gebäude abgesucht und entdeckt, daß es noch Strom gibt – nach all den Jahren funktionieren einige Systeme noch. Und, was am wichtigsten ist, es gibt ein Netz von Überwachungskameras. Da haben wir wirklich Schwein gehabt. Also habe ich beschlossen, die Kameras zu kontrollieren, und ich war mitten in der Arbeit, als ihr Leute hereingeplatzt seid –«
»Moment mal«, sagte Eddie. »Wir sind gekommen, um Sie zu retten!«
»Ich weiß nicht, warum«, sagte Levine. »Darum gebeten habe ich euch nicht.«
Thorne sagte: »Am Telefon klang das aber so.«
»Das war ein Mißverständnis«, entgegnete Levine. »Ich war in dem Augenblick ziemlich aufgeregt, weil ich das Telefon nicht bedienen konnte. Sie haben das Ding zu kompliziert gemacht, Doc. Das ist das Problem. Also, packen wir’s jetzt an?«
Levine hielt inne und sah sich all die wütenden Gesichter um ihn herum an.
»Ein großartiger Wissenschaftler«, sagte Malcolm, an Thorne gewandt. »Und ein großartiger Mensch.«
»Also hört mal«, sagte Levine. »Ich weiß nicht, was euer Problem ist. Die Expedition hätte uns früher oder später auf diese Insel geführt. In diesem Fall ist früher besser. Bis jetzt ist doch alles recht gut gegangen, und ich sehe, offen gesagt, keinen Grund, noch weiter darüber zu reden. Für kleinliche Streitereien ist keine Zeit. Wir haben Wichtiges zu erledigen, und ich glaube, wir sollten anfangen. Denn diese Insel ist für uns ein außerordentlicher Glücksfall – aber nicht für ewig.«